Gôgen

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Gôg [1]
Gôg

Gôgen oder Raupen sind die in der Tübinger Unterstadt ansässigen Weingärtner,[2] die vor allem durch die derben Gôgen-Witze bekannt wurden. Eine für Reingeschmeckte, d.h. nicht-Tübinger, hilfreiche Einführung findet sich auf Wikipedia: Gôg

Arbeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Außer dem Weinbau und der Landwirtschaft erledigten die Bewohner der Unterstadt als Tagelöhner verschiedene "niedrige" Dienste. Sie leerten die Abortgruben vieler privater Haushalte, und arbeiteten in den Gärten und Streuobstwiesen der wohlhabenden Bürger. Als Furhrleute transportierten sie schwere Lasten und verdingten sich als Bauarbeiter. Ihre Frauen und Töchter arbeiteten als Wäscherinnen, Näherinnen, Kellnerinnen oder Haushälterinnen in der Oberstadt.[2]

Dialekt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am kleinen Ämmerle: Im Vordergrund unterhält sich der Gôg Ernst Kürner mit der Zeitungsausträgerin Anna Haug.[3]

Der Dialekt der „Gôgen“ unterscheidet sich wesentlich von dem der Bewohner der Oberstadt. Das Wort „Gôgen“ wird mit einem offenem o ausgesprochen, also mehr zum a hin als zum o, aber auch wieder nicht wie Gagen, sondern wie Gôgen. Um Aussprachefehlern vorzubeugen, gab uns Heinz-Eugen Schramm den folgenden Gôgen-Witz mit auf den Weg:

"Bei einer Wahlkampfrede fallen mehrfach die Worte "Pädagogen" und "Demagogen". Da meldet sich der Hannes plötzlich zu Wort und verwahrt sich ausdrücklich gegen den Mißbrauch des Wortes "Gogen". Alle Beschwichtigungsversuche des Redners sind vergebens. Der Gog verläßt unter Protest das Lokal mit den Worten: „Ob Pädagog oder Demagog, was geht des mi a? Gog bleibt Gog!“ "[4]

Etymologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die etymologische Herkunft der Worte Gôg, Gôgen und Gôgei ist - und das ist für eine Universitätsstadt überraschend - noch nicht eindeutig geklärt. Folgende Ursprünge werden erwogen:

  • Kommt es vom mittelhochdeutschen Wort "Gauch" für Kuckuck, Tor, Narr, Possenreißer oder Schlauberger? Schon zu römischer Zeit gab es Winzerneckereien, bei denen der Kuckuksruf imitiert wurde, um die Weinbauern zu necken, die vor dem ersten Kuckucksruf ihren Rebschnitt vollenden mussten, während die Weinbauern die Spaziergänger während der Weinlese aufs übelste beschimpften, weil sie annahmen, dass diese zum Traubenstehlen in die Weinberge gekommen seien. [5]
  • Kommt es vom hebräischen Wort "Goj" für das Volk, den Pöbel? Man könnte sich ja vorstellen, dass die Stiftsstudenten auf diese Weise Ihre Nachbarn beschrieben haben, ohne ihnen zu erklären warum. Dafür müsste man allerdings annehmen, dass die Gôgenwitze zuerst in der Oberstadt erzählt wurden.[4]
  • Kommt es vom St. Georg, dem Schutzpatron der Tübinger? Das erscheint unwahrscheinlich, da der Name Georg auch in der Mundart unkontrahiert besteht.
  • Handelt es sich wie bei "Gog und Magog" in der neutestamentlichen Offenbarung des Johannes um ein Volk, das erst am jüngsten Tage vom Satan befreit werden wird? Sollten die Alt-Tübinger tatsächlich so schlimme Gesellen gewesen sein, daß sie sich den Namen einer satanischen, dunklen Macht vedienten? [6]
  • Geht es auf das keltische Wort "Gawr" zurück wie die erste Silbe des mythyischen Riesens Gogmagog? Der Tübinger Arzt August Göz beschrieb allerdings 1908 die ungewöhnliche Statur der Gogen wie folgt: "Unter dem Weingärtnerstand in Tübingen sind noch ganz vereinzelte Familien und Individuen anzufinden, welche auf eine vorgermanische Urrasse hinweisen. Es ist dies eine nahezu rundköpfige, ziemlich flach-schädelige, grobkiefrige und knochige, etwas krummbeinige, stark behaarte, untermittelgroße, graubraune, dickhäutige Rasse, welche schon in der Jugend etwas nach vorn gebückt daher kommt."[7]
  • Geht der Begriff auf altschwäbische Begriffe für große Menschen zurück? Das Schwäbische Wörterbuch von Hermann Fischer (Band 3, 1911) erwähnt, daß es einige dialektale Ausdrücke gebe, an die Gog bzw. Gage plausibel anzuschließen sei. So sind bei Fischer schwäbisch "Gagei" (ungewöhnlich großer Mensch) und "Gagel" (langer, magerer Mensch) belegt, die Adjektive gagig und gagisch bedeuten 'ungeschlacht, ästig, stumpf' bzw. 'unbeholfen'. [8]
Gogen mit Reffs als Holzträger im Jahr 1926. Von links nach rechts: Wilhelm Schreiner, Am kleinen Ämmerle; Fritz Waiblinger, Michaelstraße; Gottfried Gugel, Lazarettgasse; Eugen Kürner, Esslingsloh; Jakob Ambacher, Aischbachstraße; Karl Spranger, Seelhausgasse; Christian Brüssel, Lazarettgasse; Paul Schmid, Belthlestraße
  • Hängt es mit dem Reff, der auf dem Rücken getragenen Kiepe der Weingärtner, zusammen? Eine Erklärung ließe sich über das Verb gauklen herstellen, das im Schwäbischen laut Fischer ›etwas auf dem Rücken, auf den Schultern tragen‹ bedeutet; auch im Bairischen kommt gogkeln im Sinne von ›etwas auf dem Rücken tragen‹ vor (so das Bayerische Wörterbuch von J. A. Schmeller, 1872–1877). Ließe sich hier nicht an die Winzer, die Weingärtner denken, die bei der Weinlese die Trauben in der Kiepe schultern?[8]
  • Oder beschreibt es einfach die unverständlichen Kehllaute der Unterstädtler? Das inzwischen nicht mehr gebräuchliche Pfäffingerische Wort 'gâgen' wurde zum Beispiel für das Quaken der Frösche verwendet und meint auch hin und her schwanken.

Die Frage der etymologischen Herkunft bleibt also offen! Ob der Volksstamm auf eine Gruppe von Fußkranken zurückgeht, die während des Hunneneinfalls im Ammertal sesshaft geworden ist, ist eine ganz andere Frage.

Amtliche Beschreibung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Oberamtsbeschreibung von 1867 beschrieb die Gôgen amtlicherseits wie folgt:

"Bekanntlich ist der Tübinger Weingärtner ein [Wesen von besonderer Art] ens sui generis und als solcher nicht wohl definierbar. Von ausnehmend hartem, zähem Stoffe leistet er in der Arbeit außergewöhnliches und repräsentiert nahezu eine mittlere Pferdekraft, ermangelt dafür aber aller jener Gefühle, welche man unter dem Begriff Pietät zusammenfasst. Den Geist der Zeit hat er in seiner Weise glücklich aufgefasst, denn er steigert seine Ansprüche an die Gesellschaft gleichen Schritts mit der Fortbewegung der Zeit, legt aber eine außerordentliche Empfindlichkeit und Abneigung gegen die Ansprüche an den Tag, welche andererseits an ihn gemacht werden wollen. Stoff und Form seines Daseins wußte er gegen den Schliff der Zeit mit solchem Erfolg zu wahren, dass man oft glauben möchte, es sei zwischen seinem Wohnsitz, der untern Stadt, und dem Musensitz in der oberen, nicht etwa eine chinesische Msuer, sondern ein breites Hochgebirge herübergepflanzt." [9] [10]

Hermann Hesse über die Gôgerei[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hermann Hesse wohnte während seiner Buchhändlerlehre in der Herrenberger Straße 28 und musste von dort täglich durch die Gôgerei zum Antiquariat Heckenhauer laufen. Er schrieb darüber: "´Von außen, besonders von meiner Straße aus, bietet die buckelige, altertümliche Stadt mit Schloss und Stiftskirche überhaupt einen reizenden Anblick, innen ist's eng und duster und jetzt beim Regen ist in mehreren Straßen, durch die ich gehen muss, ein Kot [...]. Als ich heute in der Gägerei unvermutet in zolltiefen, schlammigen Kot geriet und erschreckt zurückprallte, rief mir ein alter Raupe zu: 'No zua, Herr, no zua, ma muss da Dreck ett schpara!' Diese Raupen (alias Gägen) sind ein horribles Geschlecht, schmutzig und vierschrötig, und gegenwärtig voll neuen Weins. Ihr Schwäbisch ist echt und faustdick und gemahnt ans Slowakische. Mein Weg führt gerade durchs ärgste Räuberviertel, und ich betrachte, je nachdem, mit Lachen oder Mitleiden die versoffenen Männer, die magern, schlampigen Weiber und die schmutzigen, frechen Kinder. Doch scheint es ein gesunder Schlag zu sein."[11]

Culturbilder aus Württemberg von einem Norddeutschen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tübinger Weingärtner

In einem 1886 anonym in Leipzig erschienen Buch heißt es wenig schmeichelhaft: "Die Gôgen gehören wohl zu den am schwersten zu schildernden Elementen menschlicher Gesellschaft. Von keiner Cultur beleckt, und an alten Vorurtheilen und kindischem Aberglauben hängend, für alle Reformen unzugänglich, dabei sehr hartnäckig und die württembergische Eigenheit der Rechthaberei und des Eigensinns in der höchsten Potenzierung besitzend, daneben von Natur fleißig und arbeitsam, aber unreinlich und vielleicht nicht selten dem Trinken ergeben, machen manche aus dieser Bevölkerungsklasse sogar den Eindruck eines Mitteldings zwischen Europäer und Waldmensch, der noch verstärkt wird durch eine gewöhnliche, ganz unverständliche Sprache, welche für Jedermann berechtigte Zweifel erregen muß, ob diese Männer jemals in einer Schule unterrichtet worden sind." [12] [13]

Hinweis des Verkehrsvereins[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Bürger- und Verkehrsverein versuchte 1995, den Touristen mit folgenden Worten die Angst vor den Tübinger Ureinwohnern zu nehmen:

"Die Gôgen sind auskömmliche Leute, etwas derb und gradaus in ihren Redensarten, mit Mutterwitz und Schlagfertigkeit begabt, der freilich, um zu wirken, einen Partner mit entsprechendem Reaktionsvermögen voraussetzt."[14]

Berühmte Gôgen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Namen vieler Gôgen sind schriftlich nicht überliefert. Einige Gôgen waren aber stadtbekannt:

Quellen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Dieser Gôg, Rudolf Brodbeck, trägt die typische Tübinger Tracht. Sein Arbeitsgerät war die "Reuthaue" (reuten=roden) und das "Reff", eine aus Weiden geflochtene leichte Kiepe, mit der man Werkzeug und Vesper in den Wengert trug. Quelle: Tübinger Souvenirs.
  2. 2,0 2,1 2,2 Martin Biastoch: Tübinger Studenten im Kaiserreich. Franz Steiner Verlag, 1996, Seiten 180 und 183.
  3. Das waren noch Zeiten ... als die Tübinger Unterstadt (Gogei) ihren eigenen Abwasserkanal hatte. Alte Ansichten aus dem Kreis Tübingen. Schwäbisches Tagblatt.
  4. 4,0 4,1 Heinz-Eugen Schramm: Tübinger Gogen-Witze. Knödler Verlag, Reutlingen.
  5. Bernd Jürgen Warneken: Die Gogenwitze oder Tübinger Volkskultur in der Moderne
  6. Jörg Frauendiener: Über die Herkunft der Bootsnamen," in Chronik des Tübinger Rudervereins "Fidelia" 1877/1911 e.V. Seite 36
  7. A. Göz: Wald, Wild und Mensch in Württemberg. Eine Naturstudie. Tübingen, 1908, Seite 16-17. Zitiert in Martin Biastoch: Tübinger Studenten im Kaiserreich.] Franz Steiner Verlag, 1996, Seite 182.
  8. 8,0 8,1 Gesellschaft für deutsche Sprache
  9. Württemberg Statistisch-Topographisches Bureau: Beschreibung des Oberamts Tübingen Lindemann, 1867, Seite 116.
  10. Heinz-Eugen Schramm: Tübinger Gogen-Witze, Knödler-Verlag, Reutlingen, 1998.
  11. Wilfried Setzler: Hesse in Tübingen. Silberburg Verlag, Tübingen, 2002.
  12. Culturbilder aus Württemberg von einem Norddeutschen, Leipzig 1886, S.3.
  13. Robert Lukaschek und Joachim Kübler (Herausgeber):Kompendium der Geschichte, Gebräuche und Prinzipien der Akademischen Verbindung ALBERTUS MAGNUS Tübingen. Seite 12.
  14. Tübingen Brevier. Herausgegeben vom Bürger- und Verkehrsverein Tübingen e.V. Tübingen, 1995.