Nordtangente
Die Nordtangente war eine Straßenplanung der 1960er bis 70er Jahre. Es sollte eine in beiden Richtungen verlaufende und durchgehend mindestens vierspurige Strecke die nördliche Innenstadt durchziehen bzw. umgehen und dadurch vor allem den Durchgangsverkehr aus der vorderen Wilhelmstraße und der eng bebauten Wilhelmvorstadt mit dem Univiertel herausnehmen.
Streckenverlauf mit zwei Tunneln von West nach Ost: Westbahnhofstraße – Kelternstraße – Schmiedtorkreuzung/Rümelinstraße – Tunnel bis zur Liebermeisterstraße – oberirdischer Anschluss an die Gmelinstraße – zweiter Tunnel ab Sigwartstraße unter der Brunsstraße bis zur Mohlstraße – dann oberirdisch zur Wilhelmstraße. Das 1968 gebaute Hörsaalgebäude Kupferbau wurde bereits so platziert, dass nordwestlich davon die neue Fahrbahn vorbeigeführt werden könnte. Ebenso wurde an der Ecke Mohlstraße/Haußerstraße vor dem späteren Neubau (heute REWE-Markt u. a.) der entsprechende Raum freigehalten.
Am Schmiedtor war ein Verkehrsknoten geplant, dreimal größer als der Tübinger Marktplatz. 24 Straßenspuren hätte es dort gegeben. Für das Projekt waren 70 Millionen DM veranschlagt. Gleichzeitig war der Abriss des Schimpfhauses zugunsten eines Busbahnhofs geplant.
Die Baumaßnahmen hätten u.a. erhebliche Eingriffe in die Bausubstanz und ins Stadtbild bedeutet. Eine in den siebziger Jahren in der Bevölkerung wachsende Skepsis bis Gegnerschaft gegenüber als allzu „großspurig“ empfundenen Bauplanungen führte zu Protesten einer Bürgerintiative „Nordtangente/Schimpfeck“ und schließlich am 8. Juli 1979 zu einem spektakulären Bürgerentscheid, in dem das Projekt mehrheitlich abgelehnt wurde.
Karte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Rot = ehemals geplante Trasse der Nordtangente (eine Variante)
Hinweis: Das Bild zeigt nicht die geplante Trasse mit zwei Tunneln, sondern eine „bescheidenere“ Variante. Siehe auch Diskussionsseite.
Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Stadtchronik 22.3.1982: Der Gemeinderat ... stimmt dem Bebauungsplan "Ost-West-Tangente" zu. Damit wird der Plan einer „Nordtangente“ endgültig aufgegeben.
- tuebingen.de zum Stichwort „Ost-West-Tangente“
- Gemeinderats-Beschlussvorlage zum Johanneum, PDF S. 11: Der Bebauungsplan Nr. 321 „Ost-West-Tangente“, rechtskräftig seit 19.06.1971 wird durch diesen vorhabenbezogenen Bebauungsplan überlagert und in dessen Geltungsbereich für unanwendbar erklärt., 28.5.2010
Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Tübinger Blätter 1980
- Tübinger Blätter 1981
- Andrea Bachmann: Großspurig geplant: Ein Bürgerentscheid kippte die Nordtangente. Tagblatt-Anzeiger, 22. März 2017:
Artikel, dessen Text hier zitiert wiedergegeben wird:
"Am 22. März 1982 beschließt der Tübinger Gemeinderat einen aus heutiger Sicht relativ unspektakulären Bebauungsplan für Grundstücke an der Mohlstraße. Aber der Beschluss war das tatsächliche Ende eines jahrzehntelangen Traums, den der größte Teil des Gemeinderates und der Oberbürgermeister gemeinsam geträumt hatten und aus dem sie die Tübinger Bürgerschaft auf die denkbar unsanfteste Weise geweckt hatte.
Der Traum trug den verheißungsvollen Namen „Nordtangente“ und war nichts weniger als eine mindestens vierspurige Stadtautobahn durch die nördliche Innenstadt. Die sollte vom Westbahnhof bis zur Mohlstraße reichen. Zwei Tunnel waren geplant, einer zwischen der Schmiedtorkreuzung und der Liebermeisterstraße, einer zwischen Sigwart- und Mohlstraße. Am Schmiedtor wäre ein Verkehrsknoten entstanden, dreimal so groß wie der Tübinger Marktplatz. 24 Straßenspuren wären hier zusammengelaufen. Auch am Kupferbau hätte es einen gigantischen Verkehrsknoten gegeben. 70 Millionen DM sollte das Projekt kosten, das, so träumten die Verantwortlichen, den Bau der Wilhelmsvorstadt, den Durchbruch der Mühlstraße oder den Bau des Bahnhofs in den Schatten gestellt hätte. Dass für diese Durchgangsstraße, mit der man die Wilhelmstraße entlasten wollte, ein Teil des historischen Baubestands der Wilhelmsvorstadt und der gesamte Grünraum im unteren Bereich des Talklinikums hätte „abgeräumt“ werden müssen, war man ebenso bereit in Kauf zu nehmen wie den jahrelangen Baulärm.
In der Bürgerschaft war das Projekt von Anfang an umstritten. Die Bauplanungen wurden im wahrsten Sinne des Wortes als „großspurig“ empfunden, niemand glaubte so recht, dass damit der Verkehr in der Altstadt tatsächlich reduziert werden könnte – damals durfte man noch fast überall in der Altstadt Auto fahren und auf dem Marktplatz und dem Holzmarkt wurde selbstverständlich geparkt. Die Skepsis wuchs. Tübingen sei nicht Chicago, hieß es, und als im März 1979 der Gemeinderat die Planungen für die Stadtautobahn gebilligt hatte, gingen die Tübinger Bürger gegen das ehrgeizige Verkehrsprojekt auf die Barrikaden. Zwei Bürgerinitiativen, die „Schimpf/Nordtangente“ und die „kleine Himmelwerkstraße“ konnten mit dem späteren FL-Fraktionschef Hanns-Dieter Eitle an der Spitze innerhalb kürzester Zeit genug Menschen zu einem Bürgerentscheid mobilisieren, der am 8. Juli 1979 stattfand. Gemeinderat und vor allem Oberbürgermeister Eugen Schmid waren allerdings zuversichtlich, dass die Bürgerschaft letztendlich doch für ihr schönes Projekt stimmen würde, gegen das allenfalls ein paar Grüne und studentische Protestler protestierten. Weit gefehlt.
42 Prozent aller stimmberechtigten Tübinger, oder, bei einer Wahlbeteiligung von 50,5 Prozent, sogar 82 Prozent der Wähler, stimmten in dem Bürgerentscheid gegen die Nordtangente.
Das war eine Sensation. Seit Gründung der Bundesrepublik hatte es bislang nur die Gemeinde Isny geschafft, sich qua Bürgerentscheid gegen ein geplantes Freizeitzentrum zur Wehr zu setzen. Noch nie war es gelungen, ein solch kapitales kommunales Straßenbauprojekt zu Fall zu bringen. Das TAGBLATT kommentierte allerdings relativ gelassen und voller Vertrauen auf das bürgerschaftliche Engagement der Tübinger: „Der jung-akademische Sauerteig im kommunalen Willensbildungsprozess hat schon etliche Rathaus-Entscheidungen zu korrigieren erleichtert. Das Schwabenhaus wurde für die Volkshochschule gerettet und saniert, der „Schimpf“ am Lustnauer Tor vor dem Abbruch bewahrt.“
Dass am 10. Juli 1979 etwa 250 Nordtangentengegner mit einem Fackelzug vom Holzmarkt zum Schmiedtor zogen, um dort die Nordtangente feierlich zu begraben – inklusive Kranzniederlegung und Planverbrennung – war nur ein Witz. Richtig ernst wurde es dann in den folgenden Jahren: In der Tübinger Verkehrsplanung fand eine gründliche Umorientierung statt, der öffentliche Nahverkehr wurde ausgeweitet, der größte Teil der Altstadt zur Fußgängerzone erklärt. Nur die Einbahnstraßenregelung von Osten nach Westen existiert bis auf den heutigen Tag..."