Hölderlins "Burg Tübingen"

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- ein Gedicht über die Ödenburg

Der Verfasser hat in Tübingen
mit einer Hölderlin-Arbeit promoviert.

Von Ernst Mögel


1. Einführung[1]

Friedrich Hölderlin (1770 - 1843) hat zwei größere Perioden seines Lebens in Tübingen verbracht: Zunächst die fünf Jahre seines Universitätsstudiums (Oktober 1788 - September 1793), und später dann, ab September 1806, die gesamte ihm noch verbleibende Lebenszeit bis zu seinem Tod im Juni 1843 (also ziemlich genau die zweite Hälfte seines Lebens): zuerst einige Monate als Psychiatriepatient im Tübinger Klinikum,[2] anschließend als unheilbar Geisteskranker (der im übrigen noch unnachahmlich schöne Gedichte schrieb)[3] unter der fürsorglichen Obhut der Schreinersfamilie Zimmer im "Hölderlinturm".

So ist es nicht verwunderlich, daß der Name der Stadt Tübingen, wenn auch höchst selten (gerade zwei mal) auch in Hölderlins Dichtung begegnet:[4] das eine Mal in einem Gedicht aus seiner Studienzeit ("Burg Tübingen"),[5] das andere Mal in einem späten Entwurf aus dem Jahr 1803 ("Ihr sichergebaueten Alpen...", StA 2,231f.).

Auf dieses Hymnenfragment werde ich am Ende zurückkommen. Vorerst soll es uns um das Gedicht "Burg Tübingen" gehen, und zwar um eine Frage, die zunächst vielleicht verblüffend erscheint: Welche Burg ist hier eigentlich gemeint?

In den Kommentaren der Hölderlinausgaben (sofern sie sich zu der Frage äußern) wird durchweg auf das Tübinger Schloß verwiesen.[6] Diese Auskunft zerschlägt sich, wie ich meine, bereits mit den ersten Versen des Gedichts. Ich stelle hier eine andere Auffassung vor, die Deutung auf die Ödenburg.[7] Allerdings komme ich im folgenden noch nicht gleich zur eigentlichen These, sondern lasse das Gedicht zunächst einmal Strophe für Strophe Revue passieren. Ich denke, dies lohnt sich auch unabhängig von dem speziellen Tübingen-Bezug. Zwar handelt es sich um ein Jugendgedicht[8] (und wohl nicht gerade um das allerwichtigste), an manchen Stellen wird man auch ein wenig lächeln, außerdem ist die Ausdrucksweise gelegentlich etwas verzwickt. Aber das Gedicht führt uns doch mitten hinein in die Gedankenwelt und die Psyche des jungen Hölderlin, der sich hier in Erinnerungen an die mittelalterliche Ritterzeit ergeht, sich in das falsche Jahrhundert verschlagen fühlt, von einer künftigen freieren und besseren Welt träumt: Ideen und Phantasien, die nicht nur etwas Rührendes, sondern auch ihre eigene Aktualität haben.

Im einzelnen gehe ich so vor, daß ich jede Strophe kurz paraphrasiere und im Anschluß den Gedichttext einfüge, wobei ich in Form von Fußnoten zusätzliche Detailerläuterungen anbringe.[9]


2. Der Text des Gedichts

Schauplatz der Gedichts ist, wie aus den Eingangsversen hervorgeht, eine einsam gelegene Burgruine zur Zeit der Winterstürme:

V.1-4

Still und öde steht der Väter Feste,
Schwarz und moosbewachsen Pfort' und Turm,
Durch der Felsenwände trübe Reste
Saust um Mitternacht der Wintersturm,

Im Anschluß wird als wehmütige Erinnerung das bunte Leben der Ritterzeit evoziert, und zwar in verneinender Form: In dem verlassenen Gemäuer findet kein Siegesmahl mehr statt, die Rüstungen, Schwerter und Lanzen im verfallenen Waffensaal sind vermodert:

V.5-8

Dieser schaurigen Gemache Trümmer
Heischen[10] sich umsonst ein Siegesmahl
Und des Schlachtgerätes Heiligtümer
Schlummern Todesschlaf im Waffensaal.

Die Festgesänge sind verstummt, die wehenden Fahnen verschwunden, die glänzenden Turniere, und mit ihnen die feurigen Pferde, die erlesenen Doggen, gehören der Vergangenheit an:

V.9-16

Hier ertönen keine Festgesänge
Lobzupreisen Manas[11] Heldenland
Keine Fahne weht im Siegsgepränge
Hochgehoben in des Kriegers Hand,
Keine Rosse wiehern in den Toren
Bis die Edeln zum Turniere nah'n
Keine Doggen, treu, und auserkoren
Schmiegen sich den blanken Panzern an.

Verschwunden sind auch die edlen Damen, welche den Jägern beim Klang des Hifthorns in das angrenzende hirschreiche Tal hinab folgten, die jungen Ritter, welche sich begierig die Schwerter ihrer Väter anlegten, die Mütter, welche die heimkehrenden Söhne von der Zinne herab begrüßten, die Ritterfräulein, die ihre Auserkorenen andächtig auf die frischen Narben küßten:

V.17-24

Bei des Hifthorns schallendem Getöne
Zieht kein Fräulein in der Hirsche Tal,
Siegesdürstend gürten keine Söhne
Um die Lenden ihrer Väter Stahl,
Keine Mütter jauchzen von der Zinne
Ob der Knaben stolzer Wiederkehr,
Und den ersten Kuß verschämter Minne
Weihn der Narbe keine Bräute mehr.

In der vierten Strophe kommt der Dichter nun auf sich selbst zu sprechen, wird geschildert, wie sehr ihn der Gedanke an die Ritterzeit begeistert und inspiriert: In der Brust des Nachgeborenen, der zu der einsamen Burgruine gepilgert ist, erweckt die "Riesin"[12] aus vergangenen Zeiten "schaurige Begeisterungen"; hier, wo er fern ist von dem "törichten Gewühle" (der Stadt Tübingen!),[13] erwacht in ihm eine lustvolle Wehmut, welche die Gesänge der alten Barden in seinem Innern neu erstehen läßt; und wenn er an die gefallenen Helden zurückdenkt, dämmern ungekannte Gefühle des Heroismus und des Opfermuts in ihm auf:

V.25-32

Aber schaurige Begeisterungen
Weckt die Riesin in des Enkels Brust
Sänge[14], die der Väter Mund gesungen
Zeugt der Wehmut zauberische Lust,
Ferne von dem törichten Gewühle,
Von dem Stolze der Gefallenen,[15]
Dämmern niegeahndete Gefühle
In der Seele des Begeisterten.

Im folgenden malt er sich nun aus, daß diese abgelegene Burgruine der rechte Ort wäre, um einen Freundschaftsbund im Geist des Rittertums zu schließen: Haben die Väterseelen, welche das alte Gemäuer umschweben, nicht schon lange darauf gewartet, daß ihnen dereinst wieder Söhne erstünden,- moderne Freiheitshelden in einer Zeit der Dekadenz und der Tyrannei?

V.33-40

Hier im Schatten grauer Felsenwände,
Von des Städters Blicken unentweiht,
Knüpfe Freundschaft deutsche Biederhände[16]
Schwöre Liebe für die Ewigkeit,
Hier wo Heldenschatten niederrauschen
Traufe[17] Vatersegen auf den Sohn
Wo den Lieblingen die Geister lauschen
Spreche Freiheit den Tyrannen Hohn![18]

Auf diesen Höhenflug folgt ein plötzliche Ernüchterung. Dem einsamen Wanderer kommt zum Bewußtsein, wie prekär, ja verzweifelt seine derzeitige allgemeine Stimmungs- und Lebenslage ist. Alles Streben und Ringen scheint umsonst. Die erhoffte Dichterkrone "umschlingt" ihn ebenso wenig wie "des Liebchens Schwanenarm" (die kühne Doppelung wirkt hier doch ein wenig ungeschickt), und nachts rauben ihm Selbstzweifel den Schlaf. Eigentlich ist er nur hierhergekommen, um sich einmal gründlich auszuweinen und Linderung für seine gepeinigte Seele zu finden:

V.41-48

Hier verweine die verschloßne Zähre[19]
Wer umsonst nach Menschenfreude[20] ringt
Wen die Krone nicht der Bardenehre
Nicht des Liebchens Schwanenarm umschlingt,
Wer von Zweifeln ohne Rast gequälet,
Von des Irrtums peinigendem Los,
Schlummerlose Mitternächte zählet,
Komme zu genesen in der Ruhe Schoß.

Hier schließt sich wiederum ein Tonwechsel an. Es folgt eine Art Strafrede gegen die Spötter, sowie gegen niedriggesinnte Zeitgenossen, welche sich edle Taten mit Gold bezahlen lassen. Mögen sie fernbleiben,- oder an dem geheiligten Ort aus tiefstem Herzen Besserung geloben!

V.49-56

Aber wer des Bruders Fehle rüget
Mit der Schlangenzunge losem Spott[21]
Wem für Adeltaten Gold genüget
Sei er Sklave oder Erdengott
Er entweihe nicht die heilgen Reste
Die der Väter stolzer Fuß betrat,
Oder walle zitternd zu der Feste
Abzuschwören da der Schande Pfad.

Und nun schwingt sich der Dichter wieder auf zu seiner vorigen begeisterten Vision: Die einsame Ruine ist erfüllt von den Geistern der Vorzeit, die herabgekommen sind, um das Herz junger Deutscher mit Freiheit und "Männermut" zu erfüllen! Den "Spöttern und Tyrannen" hingegen wird das Gericht angedroht,- nicht im biblischen Sinn als göttliches Urteil beim Jüngsten Gericht, sondern als Verdammung durch das eigene Gewissen, wobei die quälenden Gewissensbisse als die rächenden Furien des antiken Mythos erscheinen:

V.57-64

Denn der Heldenkinder Herz zu stählen
Atmet Freiheit hier und Männermut
In der Halle weilen Väterseelen
Sich zu freuen ob Thuiskons Blut,[22]
Aber ha! den Spöttern und Tyrannen
Weht Entsetzen ihr Verdammerspruch
Rache dräuend jagt er sie von dannen
Des Gewissens fürchterlicher Fluch.

Schließlich darf das Gedicht in gelöstem Ton verklingen: Wohl mir! Mein Gewissen ist versöhnt, ich werde nicht heimgesucht von den Furien des bösen Gewissens, mein Herz ist menschenfreundlich, ich gehöre nicht zu den Spöttern! So scheidet der Dichter in "süßem Ernst" von der abgelegenen Ruine, wenn er nun wieder hinabgeht in das Getriebe der Stadt (und in die stickige Luft des ungeliebten Stifts)[23]. Und in süßem Ernst wird er wiederkehren, um den Geist mittelalterlichen "Männermuts" erneut in sich hineinzutrinken,- bis sich seine Seele dereinst für immer mit den Geistern der Väter vereinen wird:

V.65-72

Wohl mir! daß ich süßen Ernstes scheide,
Daß die Harfe schreckenlos ertönt[24]
Daß ein Herz mir schlägt für Menschenfreude
Daß die Lippe nicht der Einfalt höhnt.[25]
Süßen Ernstes will ich wiederkehren
Einzutrinken freien Männermut
Bis umschimmert von den Geisterheeren
In Walhallas[26] Schoß die Seele ruht.

Den ersehnten Freundschaftsbund hat Hölderlin später, im Frühjahr 1790, übrigens tatsächlich geschlossen: mit zwei Stifts-Kommilitonen, die sich ebenfalls (wenn auch vielleicht nicht ganz so ernsthaft) als Dichter betätigten.[27] Zur Einweihung dieses kleinen Dichterklubs verfaßte er ein Gedicht mit dem Titel "Lied der Freundschaft". Möglich, daß er auch dort wieder auf die Szenerie der einsamen Ruine Bezug nimmt (wo immer der Bundesschluß stattgefunden haben mag).[28] Jedenfalls werden, ganz auf der Linie des Gedichts "Burg Tübingen", wiederum die Geister der mittelalterlichen oder germanischen Vorzeit beschworen:

Schwebt herab aus kühlen Lüften,
Schwebet aus den Schlummergrüften,
Helden der Vergangenheit!
Kommt in unsern Kreis hernieder,
Staunt und sprecht: da ist sie wieder
Unsre deutsche Herzlichkeit.(Lied der Freundschaft, V.7ff; StA 1,104)

Insgesamt stand dieser Freundschaftsbund freilich im Zeichen neuer und anderer Schutzgeister, die dann für Hölderlins weiteren Weg als "Dichter und Denker" bestimmend blieben: der Götter und Heroen der griechisch-römischen Antike, und vor allem: der "Meisterin und Mutter",[29] der "göttlichen Natur".[30]

3. Die Frage nach der Lokalisierbarkeit der "Burg Tübingen"

Kommen wir zur Ausgangsfrage zurück: Wo könnte Hölderlins "Burg Tübingen" zu lokalisieren sein?

Daß die Deutung auf das wohlbekannte Tübinger Schloß ausscheidet, dürfte mittlerweile klar sein: Ob nun Schloß oder Burg: Jedenfalls ist es keine verfallene Ruine, und es liegt auch nicht fern der Stadt,[31] sondern ist vom Stift und vom Marktplatz nur einige Schritte entfernt.

Für Leser, die mit der Tübinger Umgebung ein wenig vertraut sind, dürfte aber auch die positive Antwort nicht schwer sein, zumal uns Hölderlin gleich mit den Eingangsworten, bewußt oder unbewußt, einen Wink gibt: "Still und öde liegt der Väter Feste". Klingt hier nicht die Ödenburg an?

Was hat es nun mit der Ödenburg auf sich? Ich muß zunächst ein wenig ausholen. Zwischen Tübingen und Wurmlingen erstreckt sich ein langgezogener bewaldeter Bergrücken, der Spitzberg. Nach Osten verengt er sich zu einer schmalen Bergzunge, die auf ihrer Höhe das Tübinger Schloß beherbergt, bevor sie sich zur Stadt hinabsenkt. Im Westen, gegen Wurmlingen zu, hat der Bergzug einen spektakulären Abschluß: Hier steigt er nach einer tiefen Senke nochmals steil empor und wird durch die berühmte, weithin sichtbare Kapelle gekrönt,[32] bevor er in sanftem Abstieg endgültig nach Wurmlingen hinabführt.

Der Spitzberg bildet die Grenzscheide zwischen den beiden Flußtälern der Ammer und des Neckars. Die zum Neckartal schauende Südflanke ist nur teilweise bewaldet und wurde früher zu intensivem Weinbau genutzt und ist großenteils terrassiert; sie bietet mit ihren den Hang entlanglaufenden Mäuerchen, ihren Wiesen und Obstgärten und verschiedenen, mit Büschen und Bäumen übersäten Ausbuchtungen und Einkerbungen ein überaus malerisches Bild.

Etwa auf halbem Weg zwischen Tübingen und dem Nachbardorf Hirschau hat der Spitzberg eine besonders markante Ausbuchtung: Auf der bewaldeten Höhe zweigt ein Bergsporn ab, der sich vom Hauptberg zunächst ein Stück weit herabsenkt, dann ein schmales Plateau bildet und am Ende steil zur Neckaraue abfällt. Auf diesem von prächtigem Laubwald bedeckten Plateau stand früher einmal die Ödenburg.

Von der Burg selber ist heute kaum mehr etwas zu sehen. Nur das Bodenprofil läßt noch etwas von der verschwundenen Anlage erahnen, vor allem eine von Büschen und Bäumen überwucherte Erhebung, die durch einen verwitterten Gedenkstein als Ort der Ödenburg kenntlich gemacht ist.

Die Ursprünge der verschwundenen Burganlage gehen in frühmittelalterliche Zeit zurück. Nachdem sie bereits mehr oder weniger verfallen war, wurde sie im Jahr 1291 neu instandgesetzt, jedoch schon bald darauf wieder, und diesmal endgültig verlassen.[33] Im 16.Jahrhundert ist noch von einem "alten Gemäuer, die Ödenburg genannt" die Rede.[34] Bereits 1593 heißt es dann jedoch, von der Ödenburg sei kein Stein mehr übrig.[35]

Ludwig Uhland konstatiert später, daß sich von der Ödenburg nur der Flurname erhalten habe: "Eine Halde am Spitzberg heißt in Urkunden, Lagebüchern und noch gewöhnlich die Ödenburg. Das althochdeutsche Adjektiv "ôdi", öde, bedeutet leer, verlassen... So mag Ödenburg heißen: zur öden, verlassenen, aufgegebenen Burg.[36] Von dem schrofferen, engeren Berge mochten die Tüwinge[37] auf einen andern, bequemeren, auf die Stelle des jetzigen gezogen sein, ihre vormalige Burg war nun die verlassene, vereinsamte geworden. Man findet auch nirgends ihrer urkundlich gedacht, kein Dienstmann der Tübinger Pfalzgrafen ist von Ödenburg genannt, nur der zerschnittene Rücken des Spitzbergs gibt noch Zeugnis von der vormaligen Burgfeste".[38]

Für die Tübinger Bevölkerung und namentlich auch für die Studentenschaft war die Ödenburg früher ein beliebtes Ausflugsziel. (Bis vor einigen Jahren wurde in unmittelbarer Nachbarschaft ein Sommercafé, das "Café am Spitzberg" betrieben.) Wenn man von Tübingen heraufkommend die Höhe des Spitzbergs erreicht hat und eine Weile den Bogen und Windungen des Sträßchens gefolgt ist, nimmt man schließlich einen kleinen Weg, der sich links in den Wald hinabschlängelt. Er führt am Ende auf das Plateau der Ödenburg. Bevor man zu dem kegelartigen Fundament der verschwundenen Hauptburg[39] (mit dem erwähnten Gedenkstein) gelangt, lädt eine Bank mit eisernem Jugendstiltisch (die Marmorplatte ist abhandengekommen) zum Verweilen ein.

In dieser Gegend also mag Hölderlin sich befunden haben, als ihm die Idee zu dem Gedicht "Burg Tübingen" kam:

V.1-4

Still und öde steht der Väter Feste,
Schwarz und moosbewachsen Pfort' und Turm,
Durch der Felsenwände trübe Reste
Saust um Mitternacht der Wintersturm...

Am inneren Rand des Plateaus (nach Tübingen zu) senkt sich der Wald in eine geräumige Mulde hinab,[40]- kaum treffender zu beschreiben als mit Hölderlins Worten aus dem kleinem Gedicht "Der Winkel von Hahrdt":

Hinunter sinket der Wald,
Und Knospen ähnlich, hängen
Einwärts die Blätter, denen
Blüht unten auf ein Grund . . . (StA 2,116)

Hier sah er wohl in Gedanken die Ritter mit ihren Damen zur Hirschjagd hinabziehen (der Name des benachbarten "Hirschau" zeugt bis heute vom ehemaligen Hirschreichtum der Gegend):

Bei des Hifthorns schallendem Getöne
Zieht kein Fräulein in der Hirsche Tal... (V.17f.)

Nun habe ich freilich schon vermerkt, daß von der Ödenburg bereits zur Zeit Hölderlins kein Stein mehr zu sehen war,- es sei denn als unauffälliger Bestandteil eines benachbarten Mäuerchens oder Gartenhauses . . .[41] Ist die Ödenburg-Hypothese damit bereits wieder hinfällig? Oder sollen wir annehmen, daß Hölderlin sich die Ruine der Ödenburg bloß ausgedacht hat,- daß sie ebenso das Produkt seiner Einbildungskraft ist wie das mittelalterliche Ritterleben, das er sich dazu ausmalt?

Wie gerne sich der junge Hölderlin seiner Phantasie überließ, wird durch zwei Briefstellen (aus seiner Maulbronner Klosterschulzeit) illustriert, wo er voller Selbstironie von sich berichtet:

"Ich mache hier wenig Bekanntschaft - ich bin immer noch lieber allein - und da phantasiere ich mir eins im Hirn herum, und da gehts so andächtig her, daß ich zuweilen beinahe schon geweint hätte, wenn ich mir gephantasiert habe, ich sei um mein Mädchen gekommen, sei, verachtet von jedermann verstoßen worden. Lebe wohl - Bruder - die Glocke schlägt, ich muß ins Kollegium."
(An Immanuel Nast, Sept. 1787; StA Br.12)

Und im Folgebrief:

"Jetzt muß ich Dir auch noch was zum Lachen schreiben - denk nur, lach mich nur recht aus, heute ging ich so vor mich hin - plötzlich kommt mir meine Lieblingsnarrheit, das Schicksal meiner Zukunft vors Auge - und höre nur, aber lach mich toll aus, da fiel mir ein, ich wolle nach vollendeten Universitätsjahren Einsiedler werden - und der Gedanke gefiel mir so wohl, eine ganze Stunde, glaub ich, war ich in meiner Phantasie Einsiedler." (An Immanuel Nast, Okt. 1787; StA Br.13)

Angesichts dieser Selbstaussagen dürfen wir wohl annehmen, daß an dem Gedicht "Burg Tübingen" in der Tat fast alles "Phantasieprodukt" ist. Was als historischer Kern verbleibt, sind Hölderlins Spaziergänge am Spitzberg, seine Einsamkeitgefühle, seine Selbstzweifel, seine Sehnsucht nach Freundschaft und nach dichterischer Erfüllung, seine Phantasiebilder früherer Zeiten, seine Hoffnung auf eine bessere und freiere Welt,- und die zauberhafte Gegend der verschwundenen Ödenburg, welche die kleine Wanderung von Tübingen herauf auch heute noch lohnt.

Ich lasse Hölderlins "Burg Tübingen" damit auf sich beruhen, und bin doch noch nicht ganz am Ende. Das Thema "Hölderlin und die Ödenburg" erfordert noch eine kleine, bereits angekündigte Ergänzung.

4. Der Spitzberg in dem Fragment "Ihr sichergebaueten Alpen..."

Wie eingangs vermerkt, taucht der Name Tübingen in Hölderlins Dichtung später noch ein zweites Mal auf, in einem nur lückenhaft ausformulierten Hymnenentwurf vom September 1803.[42] Und diesmal nun unter ausdrücklicher Nennung des Spitzbergs:

Des Tübingens wo


und Blitze fallen


Am hellen Tage wo[43]


Und Römisches tönend ausbeuget der Spitzberg
(Ihr sichergebaueten Alpen..., V. 33.36;
StA2,232; vgl. FrA 8,744)

Zum topograpischen Verständnis dieser Gedichtstelle muß man wissen, daß der Begriff "Spitzberg" im Lauf des 19.Jahrhunderts seine Bedeutung verändert hat. Heute denken wir dabei an den gesamten Bergrücken, der sich von Tübingen bis Wurmlingen erstreckt. Dieser Höhenzug wurde zur Zeit Hölderlins jedoch noch nicht als Spitzberg, sondern als Ammerberg bezeichnet. Dabei war auch der Name Spitzberg durchaus bekannt und geläufig, allerdings in einem spezielleren Sinn. Er war mit einem bestimmten Teil des "Ammerbergs" verknüpft, mit jenem "spitz" vorspringenden Ausläufer, der früher einmal die Ödenburg trug.[44]

Dies ist nun allem Anschein nach auch Hölderlins Sprachgebrauch: Wenn in dem Hymnenfragment vom "Spitzberg" die Rede ist, so bezieht sich dies auf eben jenen Bereich des Höhenzugs, welcher uns von dem Jugendgedicht her bereits bekannt ist,- auf den Bergsporn der Ödenburg.

Allerdings verbindet Hölderlin mit dieser Gegend hier nun den Gedanken an die Römer, die auch im Tübinger Raum ihre Spuren hinterließen;[45] möglicherweise hatte er von entsprechenden Funden in der Nähe der Ödenburg gehört, die jedenfalls für spätere Jahre in der Tat bezeugt sind.[46]

Vermutlich bleibt die altdeutsche Perspektive des Jugendgedichts im Hintergrund trotzdem präsent: Am Spitzberg tönen für Hölderlin Römisches und Altdeutsches ineinander, vielleicht ein wenig auf der Linie der folgenden Verse, die auf das "Varustal" im Teutoburger Wald gemünzt sind:

Hier unten in dem Tale schlafen sie
Zusammen, sprach mein Vater, lange schon
Die Römer mit den Deutschen, und es haben
Die Freigebornen sich, die stolzen, stillen,
Im Tode mit den Welteroberern
Versöhnt, und Großes ist und Größeres
Zusammen in der Erde Schoß gefallen.
(Emilie vor ihrem Brauttage, V.199ff; StA 1,283f)

Für uns aber gilt, daß am Spitzberg nicht nur Mittelalterliches und Römisches, sondern auch Hölderlinisches tönt.

* * * * *


(Copyright: Ernst Mögel)


  1. ABKÜRZUNGEN: StA (Stuttgarter Ausgabe): Hölderlin. Sämtliche Werke. Im Auftrag des Württembergischen Kultusministeriums hg. von Friedrich Beißner, Adolf Beck u.a., 1943 - 1977 FrA (Frankfurter Ausgabe): Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von D.E.Sattler u.a., 1975ff Als Nachweis zu Hölderlins Briefen wird die Briefnumerierung der Stuttgarter Ausgabe genannt.
  2. Das "Institutum Clinicum" (nach dem Gründer auch "Autenriethsches Klinikum" genannt) war erst im Vorjahr (Mai 1805) in der alten Burse mit 15 Betten eröffnet worden. (Nach Michael Wischnath: Die Burse und ihre vielen Namen. In: attempto! Forum der Universität Tübingen, 18/2006)
  3. Die sogenannten "spätesten Gedichte" (StA 2, 261 - 312).
  4. In der Konkordanz zu Hölderlins Gedichten (Wörterbuch zu Friedrich Hölderlin. I.Teil: Die Gedichte. Auf der Textgrundlage der Großen Stuttgarter Ausgabe, Tübingen 1983) findet man unter dem Stichwort "Tübingen" noch mehr Belegstellen, die sich jedoch durchweg auf Datumsangaben beziehen.
  5. StA 1, S.101 - 103. In der Frankfurter Ausgabe findet man das Gedicht (samt Faksimile des Manuskripts) in Bd.2 (Lieder und Hymnen), S.11-24.
  6. So z.B. in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (Hölderlin. Werke und Briefe I, 551).
  7. In der Hölderlinliteratur wurde diese naheliegende Hypothese, so weit ich sehe, bisher noch nicht vertreten.
  8. Das Gedicht wird von den Herausgebern übereinstimmend auf den Winter 1789/90 datiert (vgl. StA I/2,404 und FrA 2, 11).
  9. Stellenangaben nach der Stuttgarter Ausgabe, jedoch in modernisierter Orthographie (wobei ich die "reformierte Rechtschreibung" nicht anwende). Hölderlins Interpunktion habe ich beibehalten.
  10. "heischen": fordern, nach etwas verlangen. Die verfallenen Gemächer sehnen sich zurück nach den :Siegesmählern, die einstmals hier gefeiert wurden.
  11. "Manas Heldenland": Deutschland. "Mana" - sowie der später (V.60) genannte "Thuiskon" - werden bei Klopstock als mythische Stammväter der Germanen beschworen (vgl. StA I/2, 391). Hölderlin evoziert mit dem mittelalterlichen Rittertum also zugleich Klopstocks Verherrlichung der alten Germanen und ihrer Sänger, der "Barden" (die in Wirklichkeit freilich nicht dem germanischen, sondern dem keltisch-irischen Kulturkreis des Mittelalters zugehörten).
  12. Der junge Hölderlin ist mit den Prädikaten "Riese" und "Riesin" reichlich freigiebig; anderswo bezeichnet er z.B. die Teck als "Riesengebirge" (StA 1, 55, V.27).
  13. Vgl. V.34: "von des Städters Blicken unentweiht".
  14. "Gesänge" hier des Metrums halber verkürzt zu "Sänge".
  15. "Von dem Stolze der Gefallenen" gehört sinngemäß zu den Folgeversen: im Gedanken an die stolzenen Gefallenen der Ritterzeit dämmern in der Seele des Dichters "niegeahndete Gefühle".
  16. Paraphrase: Die Freundschaft möge die Hände "biederer" Deutscher zu einem Bund vereinen: redliche und treue Deutsche mögen sich zu zu einem Freundschaftsbund zusammenschließen.
  17. "traufen": niederfließen (Grundverb zu dem heute noch gebräuchlichen "träufeln").

  18. Im Gedanken an die Entstehungszeit des Gedichts (Winter 1789/90) kann man fragen, ob diese Zeile als Echo auf die Französische Revolution zu werten ist. Dies ist natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen, Freiheitsbegeisterung und Fürstenkritik gehören jedoch unabhängig von den Ereignissen in Frankreich zum Grundbestand von Hölderlins Jugenddichtung (vgl. etwa "Die Demut", StA 1,40f, und "Männerjubel", StA 1,67f). Nicht umsonst war er ein Verehrer des schwäbischen Freiheitsdichters Schubart, den er im Frühjahr 1789 in Stuttgart besuchte (wie er in Br.26 der Mutter stolz berichtet).
  19. "Verschloßne Zähre": "unbemerkte Träne".
  20. "Menschenfreude" hier (und später wieder in V.67) im emphatischen Sinn: Freude, die eines wahrhaften Menschen würdig ist.
  21. Vgl. Psalm 1, V.1: "Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen,... noch sitzt, da die Spötter sitzen".- "Fehle" (Plural zu "das Fehl"): "Verfehlungen".- An dieser Stelle schlägt Hölderlins christliche Prägung durch: Du sollst über deine in die Irre gegangenen Mitbrüder nicht spotten, sondern ihnen in aller Liebe auf den rechten Weg zurückhelfen!
  22. "Thuiskons Blut": die Deutschen als Nachkommen des mythischen Stammvaters Thuiskon (siehe die Anm. zu V.10). Die "Väterseelen" sind herabgekommen, um sich am Anblick der jungen Helden zu erfreuen.
  23. Hölderlins stärkste Äußerung über das Stift findet sich in einem etliche Jahre später geschriebenen Brief an Hegel: "Das Stipendium [Stift] riecht durch ganz Württemberg und die Pfalz herunter [bis nach Frankfurt] mich an wie eine Bahre, worin schon allerlei Gewürm sich regt" (24.Okt. 1796; StA Br.127).
  24. "Daß die Harfe schreckenlos ertönt": Hölderlin dichtet ruhigen Gewissens.
  25. Dies ganz auf der Linie der Bergpredigt: "Selig sind, die reinen Herzens sind" (Matth.5,8).- "Einfalt" gehört auch in Hölderlins späterer Dichtung zu seinen höchsten Werten.
  26. Walhalla: nach altnordischer Vorstellung (seit dem 9.Jh.) bekanntlich das selige Jenseits der gefallenen Krieger.
  27. Vgl. Adolf Beck, Hölderlin. Chronik seines Lebens (Insel Taschenbuch 83), S.32f.
  28. "Voll von Schauern, ernst und stille/ In des Dunkels heil'ger Hülle/ Singen wir der Freundschaft Lied" (V.4-6). Vgl. dazu die Verse aus "Burg Tübingen": "Hier im Schatten grauer Felsenwände,/ Von des Städters Blicken unentweiht,/ Knüpfe Freundschaft deutsche Biederhände" (33-35).
  29. Bruchstück 37, StA 2,325 (Entwurf für ein Gedicht "Der Hirsch" oder "Im Walde").
  30. Hymne an die Menschheit, V.52 (StA 1,147), und öfter.
  31. "Ferne von dem törichten Gewühle" (V.29); "von des Städters Blicken unentweiht" (V.34).
  32. Ludwig Uhlands Gedicht "Droben stehet die Kapelle" hatte früher den Status eines Volkslieds: "Droben stehet die Kapelle, schauet still ins Tal hinab, drunten singt bei Wies' und Quelle froh und hell der Hirtenknab" (usw.).
  33. Nach Gerhard Wein, Mittelalterliche Burgen auf dem Ammerberg. In: Der Spitzberg bei Tübingen. Die Natur- und Landschaftsschutzgebiete Baden-Württembergs, Band 3, 1966, a.a.O. S.3f.
  34. In einem Bericht des Amtes Tübingen aus dem Jahr 1535 (nach Gerhard Wein, Mittelalterliche Burgen auf dem Ammerberg, a.a.O., S.5.).
  35. In den "Annales Suevici" (Schwäbische Annalen) von Martin Crusius. (Nach Rudolph Moser, Vollständige Beschreibung von Württemberg... Ein geographisch-statistisch-topographisches Hand- und Hausbuch..., 2.Bd., Stuttgart 1843, S.473).
  36. Wenn Uhland hier (wie auch die meisten heutigen Heimatforscher) annimmt, die Ödenburg hätte ihren Namen erst erhalten, nachdem sie "verödet" war, so ist dies keineswegs zwingend. Angesichts ihrer einsamen Lage könnte es sich durchaus auch um den Originalnamen handeln. (Nach einem Hinweis bei Jürgen Sydow, Geschichte der Stadt Tübingen, 1.Teil: Von den Anfängen bis zum Übergang an Württemberg 1342, Tübingen 1974, S.120, Anm.13).
  37. "Tüwinge", "Tuwinge": moderne romantische Bezeichnung für die Vorfahren der Tübinger Pfalzgrafen.
  38. Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage, Bd.8, 1873, S.596 (Nachträge, Nr.7: "Ödenburg"). Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Reinhard Breymayer.
  39. Außer der Hauptburg gab es eine weiter zum Hang hin gelegene Vorburg (siehe den Lageplan bei Gerhard Wein, Mittelalterliche Burgen auf dem Ammerberg, a.a.O. S.4).
  40. Als Kuriosum sei vermerkt, daß sich in dieser Mulde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein kleiner Zoo, "Mannheims Tiergarten", befand. Dazu gehörte eine Waldwirtschaft, deren stattliches Gebäude noch heute von ferne sichtbar ist. (Vgl. Günter Schmid, Mannheims Tiergarten an der Ödenburg, in: Der Spitzberg bei Tübingen [s.o.], S.17-27).
  41. Das Gemäuer der Burg wurde als Steinbruch für Weinbergmauern und Gartenhäuser genutzt,- zum Waldrand ist es nicht weit.
  42. Datierung nach FrA 7,44f.
  43. Die Stuttgarter Ausgabe bringt dieses zweite "wo" nur im Lesartenband (StA 2/2, 866, Z.2).
  44. "Als 'Spitzberg' bezeichnete man früher die spitze Bergzunge, die von der 'Ödenburg' aus zum Neckar vorspringt. Ödenburg und Spitzberg waren beliebte Ausflugsziele der Studenten. Vermutlich ist deshalb im 19.Jahrhundert der bekanntere Name 'Spitzberg' auf den gesamten 'Ammerberg' übertragen worden". (Hans Jänichen, Zur Geschichte des Ammerbergs. In: Der Spitzberg bei Tübingen [s.o.], S.12.).- Auf manchen Geländekarten findet man den Namen "Spitzberg" doppelt: zum einen als Bezeichnung für den gesamten Höhenzug, zum andern für den Bergsporn der Ödenburg.
  45. Auf einer Meilensäule wurde über die Germanensiege des Kaisers Maximinus (3.Jh. n.Chr.) berichtet. (StA 2/2, 866, mit Hinweis auf Peter Goeßler: Zur ältesten Geschichte Tübingens und seiner Umgebung, Tübinger Blätter 30, 1939, S.6-15).
  46. "Der Rottenburger Domdekan v.Jaumann fand zu Anfang des 19.Jahrhunderts auf der Ödenburg Ziegel und Gefäßscherben, die er als römische bestimmte; er vermutete, daß hier ein römischer Wachtposten, eine Specula, gestanden sei." (Gerhard Wein, Mittelalterliche Burgen auf dem Ammerberg, a.a.O., S.5).