Richard Schuh
Richard Schuh war ein veruteilter Mörder. Er wurde mit einer Guillotine in Tübingen am 18. Februar 1949 hingerichtet (siehe Artikel-Auszüge unten). Es war das letzte von der westdeutschen Justiz vollzogene Todesurteil - drei Monate später wurde die Todesstrafe abgeschafft.
Quelle: Artikel von Hans-Joachim Lang in "Die Zeit" im Juli 1999:
Am 18. Februar 1949 ließ die westdeutsche Justiz in Tübingen zum letzten Mal einen Menschen hinrichten
Man sollte mit dem Töten von Amts wegen schlechthin ein Ende machen", gibt der sozialdemokratische Politiker Carlo Schmid am 10. Februar 1949 zu bedenken. Schmid, Justizminister des Ländchens Württemberg-Hohenzollern, hält sich an diesem Tag in Bonn auf und leitet den Hauptausschuß des Parlamentarischen Rats zur Vorbereitung des Grundgesetzes. Auf der Tagesordnung steht die Abschaffung der Todesstrafe. Unmittelbar vor Schmid hat sein Parteigenosse Friedrich Wilhelm Wagner den Antrag gestellt, dazu eigens einen Artikel zu formulieren: "Die Todesstrafe ist abgeschafft." Die Abstimmung über diesen Antrag wird jedoch vorerst noch ausgesetzt.
34 Todesurteile hatten deutsche Gerichte in den drei Westzonen (also Berlin nicht miteingerechnet) bis zur Verkündung des Grundgesetzes noch verhängt, davon waren 15 vollstreckt worden: 13 in Nordrhein-Westfalen, eines in Hamburg und eines in Württemberg-Hohenzollern.
Der letzte Delinquent hieß Richard Schuh. Er stammte aus Remmingsheim bei Tübingen. Am 28. Januar 1948 war Schuh per Anhalter auf dem Weg nach Hause. Der gelernte Mechaniker, Jahrgang 1920, unehelicher Sohn einer Bauerntochter, war 1939 zur Luftwaffe gekommen, wo er unter anderem als Bordschütze bei den Kampffliegern gedient hatte. Nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft schlug er sich als Gelegenheitsarbeiter durch. "Geschäftlich und privat", sagte nachher bei Gericht ein Zeuge, steckte er zu dieser Zeit "in einer Sackgasse".
Als ihn an jenem Januartag ein Lastwagenfahrer in der Gegend von Herrenberg mitnahm, faßte Schuh spontan einen grausigen Entschluß. Er schoß den hilfsbereiten Mann mit seiner alten Wehrmachtpistole nieder, warf die Leiche an den Straßenrand und fuhr mit dem Laster in einen Wald bei Tübingen. Mit zwei Kumpanen, die er herbeiholte, bockte er den Wagen auf und montierte die nagelneuen Reifen ab, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verhökern. Die Sache flog auf, Schuh wurde verhaftet, und am 14. Mai 1948 verhängte Tübingens Landgericht das nicht unerwartete Urteil: Todesstrafe wegen Mord in Tateinheit mit schwerem Raub.
Umstände, die dazu hätten führen können, eine lebenslängliche Freiheitsstrafe auszusprechen, hielten die Richter für nicht gegeben. "Zu Hause", würdigten sie in der schriftlichen Urteilsbegründung Schuhs Verhalten nach dem Krieg, "gelang es ihm in den folgenden Jahren nicht, sich in ein geordnetes bürgerliches Leben einzugewöhnen." Sie betonten, "daß er infolge des langen Krieges und der unseligen, verwirrten Nachkriegsverhältnisse den Respekt vor dem Menschenleben und die Achtung vor den Gesetzen verloren und durch seinen vieljährigen Kriegsdienst mehr eine Erziehung zu Gewalt und Unrecht als eine solche zu Ordnung und Moral genossen hat". Aber: "Dieses Schicksal teilt er mit Unzähligen."
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Schuhs Revisionsantrag wurde am 6. Juli 1948 vom Strafsenat des (damals noch existierenden) Oberlandesgerichts Tübingen verworfen. Zwei Tage später ging bei der Staatsanwaltschaft Post zum selben Thema ein: der Durchschlag eines Gnadengesuchs von drei Tanten des Todeskandidaten an den Staatspräsidenten und, verfaßt vom Landgericht, eine "Äußerung im Sinne des § 13 Abs. 4 der Gnadenordnung".
Die Tanten wiesen auf die schwierigen Zeitverhältnisse, die Reue des Verurteilten und auf Gott als den eigentlichen Herrn über Leben und Tod. Unterstützt wurde das Gesuch vom Remmingsheimer Pfarrer, der zu bedenken gab, "daß durch die Aufhebung der Todesstrafe dem noch recht unreifen jugendlichen Übeltäter Gelegenheit geboten wird, seine Reue und seinen Wiedergutmachungswillen in langen Jahren durch die Tat zu erhärten und sich nach und nach zu wirklicher innerer Reife hindurchzuringen". Sogar die Landesstrafanstalt Rottenburg, in der Schuh einsaß, attestierte dem Mörder, daß "der Panzer von Kaltherzigkeit und Selbstsucht, der ihm um Herz und Gewissen lag", nunmehr "durchstoßen" sei.
Landgerichtsdirektor Walter Biedermann dagegen sah sich "zu einer Befürwortung eines Gnadenerweises" nicht in der Lage: Wer Schuh begnadige, müsse auch alle künftigen Mörder begnadigen. Um aber, wie in England, die Todesstrafe abzuschaffen, bedürfe es stabiler politischer Verhältnisse. Wörtlich fuhr er fort: "Das kann man für unser an der russischen Grenze gelegenes Land nicht behaupten. Es kann deshalb nicht damit gerechnet werden, daß die zu lebenslänglichem Zuchthaus Begnadigten besonders bußfertig werden. Sie werden hingegen alle politischen Spannungen, an denen es auf Jahre hinaus nicht fehlen wird, mit Hoffnung auf eine radikale politische Umwälzung erleben und sich als künftigen Kommissar oder Kreisleiter träumen."
Ein rechtskräftiges Todesurteil konnte nur noch auf dem Gnadenweg aufgehoben werden, dafür gebührte dem Staatspräsidenten das letzte Wort. Nach dem CDU-Sieg in Württemberg-Hohenzollern war vom 22. Juli 1947 an der Rottweiler Rechtsanwalt Lorenz Bock der erste Mann im Land und damit auch für Begnadigungen zuständig. Als stellvertretender Regierungschef und Justizminister amtierte in Bocks Regierung Carlo Schmid, der in einer Kabinettsitzung entschieden dafür plädierte, von der Vollstreckung abzusehen, weil die Todesstrafe nicht mehr zeitgemäß sei und eine "Degradierung der menschlichen Gesellschaft" darstelle.
Wirkungslos blieb dieser Vorstoß nicht. Fünf Tage später nämlich, am 15. Juni 1948, wandelte Bock zwei Todesurteile in Zuchthausstrafen um, bei den übrigen Verfahren, darunter dem gegen den Raubmörder aus Remmingsheim, war der Rechtsweg noch nicht ausgeschöpft. Pech für Schuh; denn nach dem plötzlichen Herztod des Staatspräsidenten am 4. August 1948 kam mit Gebhard Müller, ebenfalls CDU, ein prinzipieller Befürworter der Todesstrafe ins Amt. Schmid blieb zwar weiterhin in seinen beiden Funktionen im Kabinett, hielt sich aber in den folgenden Monaten wegen der Grundgesetz-Beratungen häufig in Bonn auf. So war er auch am 15. Oktober 1948 nicht in Tübingen, als Schuhs Gnadengesuch im Kabinett behandelt wurde. Im Protokoll ist dazu, leider ohne nähere Angaben, vermerkt: "Staatspräsident Dr. Müller trägt Straftatbestand und Gnadengesuch vor. Die für und gegen eine Begnadigung sprechenden Gründe werden unter Beteiligung aller Mitglieder des Staatsministeriums durchgesprochen."
Als stellvertretender Innenminister saß Theodor Eschenburg zwar nicht am Kabinettstisch. Aber er hatte mit den Regierungsmitgliedern vertrauten Umgang und gehörte zu einer Honoratiorenrunde, die sich mehr oder weniger regelmäßig in einem Tübinger Restaurant traf. Am Abend nach der Kabinettssitzung, berichtet er, habe Müller dort schon mal anklingen lassen, wie er entscheiden werde. Am 18. Oktober 1948 lag sein Entschluß schriftlich vor: "Dem Gnadengesuch ... vermag ich nicht zu entsprechen. Das Urteil ist zu vollstrecken."
Weitere Wochen gingen ins Land. Nachdem das Justizministerium die Hinrichtung schließlich auf Freitag, 18. Februar 1949, terminiert hatte, wies Oberstaatsanwalt Richard Krauß den Vorstand der Landesstrafanstalt Rottenburg am 15. Februar ("Streng vertraulich! Persönlich!") an, den Gefangenen Schuh "unter sorgfältigster Bewachung" spätestens bis Donnerstag, 17. Februar, ins Landgerichtsgefängnis zu überstellen, dabei den Zweck des Verschubs "streng geheim zu halten". Am 16. Februar bat er den Landgerichtspräsidenten um die Anordnung, daß tags darauf für den Fall des beabsichtigten Wiederaufnahmeantrags ein Urkundsbeamter der Geschäftsstelle sowie das dafür zuständige Gericht zur Verfügung stehen. Ebenfalls an diesem Tag beauftragte er den Direktor des Landgerichtsgefängnisses ("Vertraulich!"), dem Scharfrichter und seinen Gehilfen für die Nacht von Donnerstag auf Freitag im Gefängnis Schlafgelegenheiten zuzuteilen. Schuhs Verteidiger teilte er ("Streng vertraulich!") die Ablehnung des Gnadengesuchs, den Zeitpunkt der Bekanntgabe an Schuh sowie den Termin der Hinrichtung mit.
Am 17. Februar forderte er ("Geheim! Eilt sehr!") den Oberbürgermeister auf, "12 Personen aus den Vertretern oder aus anderen achtbaren Mitgliedern der Stadtgemeinde abzuordnen, um dieser Hinrichtung beizuwohnen und während dieser Hinrichtung die kleine Rathausglocke zu läuten" sowie "diese Personen anzuweisen, daß sie in feierlicher Kleidung erscheinen". Beim Anatomischen Institut der Universität fragte er an ("Geheim!"), "ob an dem Leichnam des Hingerichteten Interesse für Lehr- und Forschungszwecke" bestehe. Beim Evangelischen Dekanat wird die Genehmigung erbeten ("Geheim! Eilt sehr!"), daß der Rottenburger Gefängnisgeistliche während der Hinrichtung die seelsorgerische Betreuung übernehme.
Die Guillotine traf am Morgen des 17. Februar aus Rastatt in Tübingen ein. Um 15 Uhr eröffnete der Oberstaatsanwalt dem Todeskandidaten die Ablehnung des Gnadengesuchs und daß das Todesurteil anderntags früh um 6 Uhr vollstreckt würde. Laut Protokoll: "Der Verurteilte erschrak in starkem Maße. ... Er hatte offensichtlich bis zum letzten Augenblick auf Begnadigung gehofft. Er faltete die Hände und weinte leise vor sich hin."
Der Leichnam kam in die Anatomie der Tübinger Uni
Daraufhin brachte man den Gefangenen in eine geräumige Zelle und ließ ihn von zwei Wärtern beaufsichtigen. Auch der Geistliche nahm dort seinen Platz ein. Oberstaatsanwalt Krauß in seinem abschließenden Bericht ans Justizministerium: "Gegen 18 Uhr war das Gerät am äußeren Gefängnishof aufgestellt. Es wurde hernach besichtigt und eine Fallprobe wurde vorgenommen." Gegen Abend habe Schuh noch erwogen, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beauftragen. Aber, vermerkt Krauß: "Nachdem er über die Aussichtslosigkeit eines solchen Unternehmens unterrichtet worden war, nahm er davon Abstand."
Für Schuh hieß es nun, von der Welt Abschied zu nehmen. Sechs Briefe verfaßte er noch, den ersten abends um 20 Uhr, den letzten - an den Rottenburger Gefängnisdirektor: "Ich halte mich an Ihre lieben Worte!" - frühmorgens um 5.28 Uhr.
Zur festgesetzten Stunde ließ der Oberstaatsanwalt den Remmingsheimer in den Gefängnishof führen und das Prozedere mitteilen. Der Urkundsbeamte verlas das Todesurteil und die Entschließung des Staatspräsidenten. Nach einem Gebet des Pfarrers mit Schuh wandte sich Krauß an den Delinquenten mit den Worten: "Richard Schuh, Ihr Leben ist verwirkt! Gehen Sie mutig und gefaßt Ihren letzten schweren Gang mit dem Bewußtsein, daß Sie nur dadurch Ihre Schuld sühnen und sich von Ihrer Todsünde reinigen können. Gott sei Ihrer Seele gnädig!" Sodann beauftragte er den Henker: "Scharfrichter, ich übergebe Euch den Richard Schuh mit dem Befehl, ihn dem Urteil gemäß zu richten vom Leben zum Tode."
Daraufhin wurde vollstreckt, ausweislich des Protokolls: "Der Verurteilte war völlig beherrscht und gab keinen Laut von sich. Der Scharfrichter und seine Gehilfen führten Schuh alsbald auf den Schafott. ... Daraufhin ließ der Verurteilte die Enthauptung durch den Scharfrichter und seine Gehilfen völlig ruhig und gefaßt und ohne einen Laut über sich ergehen. Der Geistliche sprach zum Ende nochmals ein lautes Gebet. Der Leichnam wurde von dem Scharfrichter und seinen Gehilfen in den bereitstehenden Sarg gelegt und den Beauftragten des Anatomischen Instituts übergeben. Der ganze Akt der Hinrichtung - von der Vorführung bis zur Enthauptung - dauerte 10 Minuten."
Hinterher bestätigte das Anatomische Institut "die richtige Ablieferung der Leiche". Was weiter damit geschah, läßt sich im Leichenbuch des Instituts nachlesen: "Kopf für wissenschaftliche Zwecke verwendet" und "Rest als Dauerpräparat vorgesehen".
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Gefunden im März 2010 - Quelle: Artikel von Hans-Joachim Lang in "Die Zeit" im Juli 1999