Garnisonsstadt

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Tübingen war seit den 1870er Jahren Kasernenstandort und blieb es, wenn auch unter anderen Vorzeichen bis in die 1990er Jahre. Mit dem Abzug der französischen Soldaten aus der Hindenburg- und Loretto-Kaserne 1991 begann der Anfang vom Ende Tübingens als Garnisonsstadt. 1999 wurde das Verteidigungsbezirkskommando 54 der Bundeswehr aufgelöst, was auch formal dieses Ende besiegelte.


Tübingen als Garnisonsstadt 1945-1992

Aus: Zur Geschichte Tübingens als Garnisonsstadt 1945-1992 gibt es einen Artikel von Martin Kramer im Heft 43/44 Deutschland & Europa von 2002 - Auszüge hier zur Illustration, Danke an die Quelle von Tüpedia!

Zwischen Feindseligkeit und Gleichgültigkeit

Franzosenkirmes 1977 - Quelle:LPB BW
In der kleinen Universitätsstadt Tübingen dominierten zunächst die Franzosen Stadtbild und Alltagsleben. Sie beschlagnahmten viele über die ganze Stadt verstreute Gebäude und Wohnungen und benutzten die Kasernen, soweit sie nicht beschädigt waren, sofort weiter. Bis in die 60er Jahre waren in Tübingen 2000 Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere mit ihren Familienangehörigen stationiert. In öffentlichen Paraden demonstrierten die Franzosen militärische Präsenz. Erst als 1955 das Besatzungsrecht formal endete und in der Folge in der Südstadt, jenseits der Steinlach, Wohnquartiere für die französischen Soldaten entstanden, ging die Präsenz im öffentlichen Leben zurück. Die beschlagnahmten Wohnungen und Villen wurden nach und nach zurückgegeben. Dafür entwickelte sich in den Augen vieler Tübinger die Südstadt zum »besetzten Gebiet«. Dort gab es alles, was die Soldaten und ihre Angehörigen brauchten, unter französischer Regie: eine Schule, den Supermarkt »Economat« und eine Apotheke. Schwere Panzer kurvten durch die engen Straßen und hinterließen an den Bordsteinen ihre Spuren.

Mit der Kernstadt von Tübingen jenseits des Neckars hatte dieses Viertel wenig zu tun. Natürlich gehörten französische Militärfahrzeuge zum Straßenbild, erkannte man die Zivilfahrzeuge französischer Soldaten nicht nur am Fahrzeugtyp, sondern an den blauen Nummernschildern. Und nicht zu übersehen und zu überhören waren die Rudel junger, kurzgeschorener Wehrpflichtiger, die nach Dienstschluss durch die Altstadt zogen. Die Franzosen waren da, aber man nahm sie nicht (mehr) wahr.


Französische Wohnhäuser in der Südstadt

Die Mansardenzimmer waren bis in die 70er Jahre bei Studentinnen begehrt. Anstatt Miete zu bezahlen mussten sie die Kinder der Offiziersfamilien betreuen und bei gesellschaftlichen Anlässen als Bedienung aufwarten.

Das Kasernentor war eine hermetische Grenze, bewacht von einem Posten in Stahlhelm und in weißen Gamaschen. Was hinter dem Schlagbaum lag, blieb verborgen. Allenfalls aus den umliegenden Häusern konnte man beispielsweise in den riesigen Innenhof der Loretto-Kaserne blicken, auf dem sich aber im Laufe der Zeit immer weniger Leben zeigte. Einmal im Jahr öffneten sich die Tore für einen Tag der offenen Tür, »Franzosen-Kirmes« genannt. Für Kinder eine Gelegenheit auf militärischem Gerät herumzuklettern und für Erwachsene billig einzukaufen: zum Beispiel kartonweise den als typisch geltenden »Vin Mousseux« und Zigaretten.

Familiäre Kontakte zwischen Franzosen und Deutschen waren die Ausnahme, selbst wenn man nebeneinander wohnte. Das lag gewiss nicht nur an den Sprachbarrieren, sondern auch an der hohen Fluktuation. Wehrpflich­tige waren in der Regel nur ein Jahr in Tübingen, Offiziere zwei Jahre.

Eine wirkliche Beziehung zu Frankreich entstand weniger über die Garnison, sondern eher über die Städtepartnerschaft mit Aix-en-Provence. Durch diese »jumelage« gelangte in den 60er und 70er Jahren französische Lebensart an den Neckar. Bekannt und beliebt war in studentischen Kreisen das Feinkost-Geschäft Kohla in der Collegiumsgasse, in dem man selbst noch die ausgefallensten Zutaten für die französische Küche bekommen konnte, bevor in den 80er und 90er Jahren McDonald's und Pizzerien die Innenstadt eroberten. Die französische Garnison wurde dadurch noch mehr ins militärische Ghetto abgedrängt.


Offizielle Begegnungen

Beim Verlassen der Südstadt passierte man, gleich nach dem Überqueren der Bahnlinie über die so genannte »Blaue Brücke«, zwei wichtige Institutionen der französischen Garnison. »Foyer« und Offizierskasino. Letzteres lag wunderbar ruhig an der Einmündung der Steinlach in den Neckar. Schon der Baustil zeigte, dass es älter als die französische Garnison war; tatsächlich diente es schon zu Zeiten der deutschen Garnison als gesellschaftliches Zentrum für die Offiziere. Kasinos sind exklusive Institutionen, die dem zivilen Bürger den Zutritt verwehren. Es sei denn, er ist hoch offiziell eingeladen. Ganz anders das etwas entfernt, an der lärmenden Hauptverbindung zwischen Süd- und Nordstadt gelegene »Foyer«. In diesem typischen Zweckbau aus den 50er Jahren gab es ein französisches Restaurant und ein Kino. Zutritt hatten ursprünglich nur französische Soldaten, die Gendarmerie kontrollierte sogar. Später wurde das Foyer allgemein zugänglich und entwickelte sich damit vor allem für jene Tübinger zum Geheimtipp, die wirklich französisch essen wollten.

Eine Begegnungsmöglichkeit auf höchster gesellschaftlicher Ebene war die »Tübinger Deutsch-Französische Gesellschaft«, seit 1961 ein eingetragener Verein, dem nahezu 1000 Mitglieder angehörten: französische Berufsoffiziere und Tübinger Honoratioren. Bekannt und berühmt waren die Bälle im »Museum« oder auf dem Schloss sowie andere Festivitäten, zu denen die Franzosen gegebenenfalls die logistische Unterstützung lieferten: Zelte, Tische, Bänke und sonstiges Material, das sich ein Verein normalerweise nicht leisten konnte. 1952 initiierte der damalige Oberbürgermeister Mülberger Einladungen an französische Soldaten Weihnachten in deutschen Familien zu feiern. Obwohl diese Aktion »Weihnachtsfranzosen« bis zum Abzug der Truppen beibehalten wurde, die Südwestpresse immer wieder dazu aufrief und darüber berichtete, blieb sie doch eine Randerscheinung. Nie konnte sie den Eindruck des Verordneten, fast Zwanghaften ganz abstreifen. Engere familiäre Bande, wie französisch-deutsche Ehen, die auf diese Weise angebahnt wurden, blieben die seltene Ausnahme.


Epilog

Nach der Wiedervereinigung wurden 1991/92 die im Südwesten stationierten französischen Truppen zum größten Teil abgezogen, die Militärstandorte aufgelöst, alle Liegenschaften zurückgegeben. Über die Nutzung des überraschend frei gewordenen Wohn- und Geländeraumes wurde heftig gestritten und diskutiert, da er vielfältige Begehrlichkeiten weckte. In die beim Bahnhof gelegene Thiepval-Kaserne zogen Bosnien-Flüchtlinge ein. Sie war bereits Anfang der 80er Jahre von den Franzosen geräumt worden und hatte seither ein Sammellager für Asylbewerber und Aussiedler beherbergt. Die Kaserne am Burgholz, Richtung Reutlingen, wurde zum Teil in Studentenwohnungen umgewandelt. Die Loretto-Kaserne veränderte ihr Gesicht vollständig. Der Innenhof wurde mit Büros, Läden und Wohnungen überbaut, ehemalige Kasernengebäude werden von der Volkshochschule genutzt.

Ein langfristiges städtebauliches Konzept versucht aus dem bisher einseitig militärisch genutzten Gebiet ein enges Nebeneinander von Wohnen, Arbeiten und Dienstleistung zu entwickeln. Besonders wichtig ist die Verbesserung der Verkehrsanbindung an die Kernstadt, um aus dem einstigen Stiefkind unter den Stadtteilen ein innerstädtisches Quartier mit der entsprechenden sozialen, schulischen und kulturellen Struktur zu machen.

Als »französisches Viertel« von Tübingen nimmt diese Planung bereits konkrete Gestalt an. Wobei »französisch« inzwischen eher eine Lebensart meint und weniger die Erinnerung an die Zeit der französischen Garnison.

Aus: Zur Geschichte Tübingens als Garnisonsstadt 1945-1992 gibt es einen Artikel von Martin Kramer im Heft 43/44 Deutschland & Europa von 2002 - Auszüge hier zur Illustration, Danke an die Quelle von Tüpedia!


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